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Augustinus - Was ist Zeit?

Haben Sie ein paar Minuten Zeit für diesen Beitrag? Oder ist es Zeit, sich um die Steuererklärung zu kümmern. Finden Sie, dass die Zeit schnell vergeht oder zieht sie sich wie Kaugummi in die Länge, während Sie auf einen verspäteten Zug warten?


Zeit… der Begriff geht leicht über die Lippen. Leider ist nicht klar, was die Zeit ist. Mit diesem Schleier des Nichtwissens musste sich schon der Philosoph und Kirchenvater Augustinus von Hippo (354-430 n. Chr.) abfinden. In seinen spirituell angehauchten Confessiones gestand er:

 

„Was also ist die Zeit? Wenn niemand mich danach fragt, weiß ich es; wenn ich es jemand auf die Frage hin erklären will, weiß ich es nicht.“

 

Die Frage nach dem Wesen der Zeit erweist sich als unerwartet komplex, denn die Zeit (egal ob physikalisch oder subjektiv) ist formlos und entzieht sich der konkreten Vorstellung.

 

 

Die philosophische Startrampe

 

Drei Prämissen bilden den Ausgangspunkt von Augustinus‘ Überlegungen:

 

  1. Ginge nichts vorüber, gäbe es keine vergangene Zeit.

  2. Käme nichts auf uns zu, gäbe es keine zukünftige Zeit.

  3. Wäre überhaupt nichts, gäbe es keine gegenwärtige Zeit.

Wie aber existieren Vergangenheit und Zukunft, wenn das Vergangene nicht mehr und das Zukünftige noch nicht ist? Was ist mit dem dazwischenliegenden "Jetzt"?

 

„Wenn die Gegenwart nur dadurch Zeit ist, dass sie in die Vergangenheit übergeht, wie können wir von ihr sagen, sie sei, wo doch der Grund ihres Seins der ist, dass sie nicht sein wird?“

 

„Dann können wir in Wahrheit von der Zeit nur behaupten, sie sei, weil sie zum Nichtsein übergeht.“

 

Im Hinblick auf Vergangenes oder Zukünftiges ist von langer oder kurzer Zeit („Wir haben uns lange nicht gesehen“) die Rede. Aber wie kann etwas lange andauern, was nicht ist? Noch abstrakter wird es bei der Frage nach der Dauer oder „Länge“ der Gegenwart, die sich sich unablässig in Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges aufsplittet. Ein Jahr zerfällt in Monate, Wochen, Tage, Minuten und Sekunden. Wobei immer nur das „kürzer“ werdende Jetzt gegenwärtig ist.

 

Wenn wir die Vergangenheit beschreiben und Zukünftiges prognostizieren, müssen diese auf irgendeine Weise sein.

 

 

Drei Dimensionen der Zeit

 

Keine der drei Zeitdimensionen (Vergangenes, Gegenwärtiges, Zukünftiges) kann „lang“ genannt werden. Jede kann nur als gegenwärtige, als jetzt stattfindendes Erinnern oder Vorausdenken sein. Deshalb gibt es für Augustinus keine drei Zeiten, sondern drei Formen des "Jetzt", nämlich als

 

  1. Gegenwart von Vergangenem als Erinnerung

  2. Gegenwart von Gegenwärtigem als Anschauung

  3. Gegenwart von Zukünftigem als Erwartung

 

Obwohl Augustinus ständig von der Zeit spricht, ist ihm noch nicht klar, was Zeit ist. Das Beispiel einer Silbe, die man kurz oder lang aussprechen kann, führt ihn auf einen neuen Gedankenpfad:

 

„So kam ich zu der Ansicht, Zeit sei nichts anderes als eine Art Ausdehnung (distentio).“

 

Demzufolge handelt es sich bei der Zeit um eine Ausdehnung des Geistes. Damit deutet sich eine Lösung des Problems an, denn das Jetzt muss, um es messen zu können, eine gewisse Ausdehnung haben. Es darf nicht auf den reinen Jetztpunkt eingeschränkt gedacht werden (Kurt Flasch).

 

 

Wie gegenwärtig ist die Gegenwart?

 

Augustinus steht vor dem Problem, dass das Maß der Ausdehnung der Gegenwart nicht exakt bestimmbar. Als Kirchenmann hofft er in dieser Phase gedanklicher Stagnation auf göttliche Hilfe. Ob von Gott gegeben oder nicht, das Beispiel eines Musikstücks bringt ihn weiter. Dessen Dauer können wir nur messen, wenn wir sein Vorübergehen messen können… dazu muss sowohl der Anfangs- als auch der Endpunkt gegenwärtig sein. Der Clou:

 

Wir messen nicht das vorübergehende Zeitliche, sondern das, was wir davon im Gedächtnis behalten. Durch diese dreidimensionale Tätigkeit des Geistes erhält die Zeit eine Erstreckung, die sie messbar macht.

 

Augustinus illustriert das Erinnern und Vorgreifen des Geistes am Beispiel eines auswendig vorgetragen Liedes. Vor Beginn richtet der Sänger die Aufmerksamkeit auf das Lied als Ganzes. Hat die Darbietung begonnen, spaltet sich die Tätigkeit in die

 

  • Erinnerung dessen, was er vorgetragen hat

  • Erwartung dessen, was er noch vortragen wird

  • Aufmerksamkeit für das Gegenwärtige

 

Durch den gegenwärtigen Ton wird der Prozess (in dem der zukünftige Ton zum vergangenen wird) am Laufen gehalten.  

 

Edmund Husserl (1859-1938) wird für dieses Phänomen Jahrhunderte später – ebenfalls am Beispiel eines Musikstückes – die Begriffe Retention und Protention verwenden. Die Retention bezeichnet die Fähigkeit des Bewusstseins, neben den gegenwärtigen Wahrnehmungen auch an vorangegangenen festzuhalten. Ohne diese Fähigkeit wäre es unmöglich, das Motiv in der Musik zu bestimmen. Aus dem Erkennen des musikalischen Gesamtmotivs ergibt sich die Erwartung des Zukünftigen (i. d. F. des nächsten Tones). Wer auf einem Taylor Swift-Konzert lautstark mitgeträllert hat, weiß, was gemeint ist. Diese Vorwegnahme nennt Husserl die Protention. Das Gegenwärtige, das die Brücke zwischen den beiden bildet, ist für ihn die Urimpression.

 

Zurück zu Augustinus, der den Wirkmechanismus eines Musikstücks auf einen großen Maßstab überträgt:

 

„Dasselbe wiederholt sich in einer längeren Tätigkeit, von der dieses Lied vielleicht eine Art Abschnitt ist; es wiederholt sich im ganzen Leben eines Menschen, dessen Teile alle Handlungen dieses Menschen sind.“

 

und

 

„Es wiederholt sich in der ganzen Menschheitsgeschichte, deren Teile alle Menschenleben bilden.“

 

Im Zusammenhang mit der Zeit bedeutet „zu früh“, dass die Zeit, d. h. die Gelegenheit noch nicht da, „zu spät“ die Zeit verstrichen ist. Nur das Jetzt ist in der Zeit die Gelegenheit, das Karnickel am Schopf zu packen und Möglichkeiten zu nutzen. Auf diese Weise hat der Mensch die Chance, den steten Fluss des Entstehens, Werdens und Vergehens zu beeinflussen.  





 






Literatur

Augustinus, Aurelius: Was ist Zeit? in: Confessiones XI, Felix Meiner Verlag, Hamburg 2009.

Flasch, Kurt: Augustin. Einführung in sein Denken, Reclam, 1994.

Hellmeier, Paul D.: Philosophiegeschichte des Mittelalters, Vorlesungsskript.

Husserl, Edmund: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Felix Meiner Verlag, Hamburg 2009.

Schmidt, Heinrich: Philosophisches Wörterbuch, 21. Auflage, Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 1978.

 

 



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