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  • Autorenbildfowlersbay

Menschen und Ameisen

Ohne es zu merken, schwimmen wir in einem Meer komplexer Systeme. Auch der Mensch ist eines… mit Organen und Zellen, die ihrerseits komplexe Teilsysteme sind. Moderne Wissenschaften können diese Systeme analysieren und beschreiben, aber nicht deren langfristige Entwicklung vorhersagen (Alberto Gandolfi).

 


Komplexität und daraus resultierende chaotische Zustände sind ein Faszinosum. Sie bringen eine erfrischende Brise Anarchie in ansonsten nüchterne Wissenschaftsbereiche, indem sie tradierte Lehrmeinungen in Frage stellen, was zu Paradigmenwechsel führt und wissenschaftlichen Fortschritt ermöglicht.

 

 

Gleichgewichtsverlust

 

Unkalkulierbare und kaum wahrnehmbare qualitative Veränderungen lassen stabil wirkende Systeme aus dem Gleichgewicht geraten. Wahrnehmbar ist das plötzliche Kippen, nicht aber die vorangegangene Kette ursächlicher Zusammenhänge. Das ist ein Problem, denn

 

„[e]in chaotisches System tritt in regelmäßigen Abständen immer wieder auf, aber nie in identischer Art und Weise. Es wiederholt sich nie.“ (Gandolfi)

 

Deshalb ist es gefährlich, sich auf Methoden zu verlassen, die bei einfachen Systemen erfolgreich waren.

 

 

Wer konnte das ahnen?

 

Ein Beispiel für die Grenzen der Skalierbarkeit sind moderne, hochgradig komplexe Gesellschaften. So versagen lokalpolitisch erfolgreiche Konzepte oft auf Bundesebene. „Dies ist einer der Hauptgründe, weshalb Regieren immer schwieriger wird. In einer immer komplexeren und dynamischeren Welt denken und handeln die Politiker nach einer Logik, die für eine einfache und stabile Wirklichkeit gedacht ist.“ (Gandolfi)

 

Ein (e. g. gesellschaftliches) System ist für den Philosophen Edgar Morin mehr und zugleich weniger als die Summe seiner Teile. Weniger in dem Sinne, dass die Organisation Eigenschaften einzelner Teile unterdrückt. So kann sich in einer modernen Gesellschaft jeder so weit verwirklichen, wie er die Freiheit des anderen nicht über Gebühr einschränkt. Gleichzeitig ist das System mehr als die Summe seiner Teile, denn

 

„[es] fördert Eigenschaften, die es ohne diese Organisation nicht gäbe. Es sind aufkommende Eigenschaften, in dem Sinne, dass sie sich empirisch feststellen, aber logisch nicht ableiten lassen.“ (Edgar Morin)

 

Wenn sich der wissenschaftliche Blick auf eine hierarchische Stufe konzentriert, können die internen Prozesse untergeordneter Teilsysteme vernachlässigt werden. Relevant ist deren In- und Output. Um eine organische Erkrankung zu behandeln, ist es beispielsweise nicht notwendig, alle Zellgruppen (Teilsysteme) en detail zu kennen.

 

„In einem komplexen System sind die Beziehungen zwischen den Elementen wichtiger als die Natur der Elemente selbst.“ (Gandolfi)

 

Um die Entwicklung komplexer Systeme bestimmen zu können, müsste bekannt sein, ob diese über „allgemein gültige strukturelle und funktionale Eigenschaften“ (Gandolfi) verfügen. Wenn ja, stellt sich die Frage, nach welcher Logik die wissenschaftliche Erkundungsmission vorgehen muss.

 

 

Steckbrief: komplexes System

 

Ein Sandhaufen ist kein System, weil es sich um ein nicht organisiertes Ganzes aus einer Vielzahl einfacher Elemente handelt (Gandolfi). Es gibt keine funktionale Struktur, keine Untereinheiten und keinerlei Interaktion zwischen den einzelnen Sandkörnern.

 

„Außerdem können wir Sand wegnehmen oder Teile des Haufens austauschen, ohne seine Natur zu verändern.“ (Gandolfi)

 

Im Gegensatz dazu verhalten sich komplexe Systeme (z. B. Pflanzen, Säugetiere, Maschinen, Gesellschaften) anders als deren einzelne Bestandteile. Wird bei diesen organisierten Einheiten ein Teil entfernt, verändert sich das „Wesen“ und die Funktionsfähigkeit des übergeordneten Systems. Durch diese Störung der inneren Architektur verliert das System seine Stabilität und Funktionalität.

 

Bei Alberto Gandolfi steht das dynamische, anpassungsfähige komplexe Systeme im Focus. Dabei handelt es sich um

 

„[…] ein offenes System, das aus zahlreichen Elementen besteht, die nichtlinear durch Wechselwirkungen miteinander verbunden sind und eine einzige, organisierte und dynamische Einheit bilden, die fähig ist, sich zu entwickeln und an die Umwelt anzupassen.“ (Gandolfi)

 

In der Natur existieren ausschließlich offene Systeme, die einen ständigen Energiezufluss aus ihrem Umfeld benötigen. Auf der Erde gäbe es ohne Sonnenenergie weder Fotosynthese noch höher entwickeltes Leben.

 

Diese komplexen Systeme bestehen aus einem Netzwerk von Untersystemen, die sich permanent beeinflussen. Die hierarchische Struktur sorgt für die Kontrolle des Gesamtsystems, indem sie die Aktivitäten der Elemente aufeinander abstimmt, wobei jede Systemebene als Baustein für die höhere Ebene (Organe -> Mensch) dient.

 

 

Böse Überraschung?

 

In komplexen Systemen laufen kurz-, mittel- und langfristig wirkende Prozesse parallel und beeinflussen sich wechselseitig auf undurchschaubare Weise. Laut Alberto Gandolfi führt das zu einer „geheimnisvollen inneren Dynamik“… selbst wenn die Inputs, die das System empfängt, bestens bekannt sind.

 

„Manchmal reagiert ein System sofort und heftig auf einen Input. Andere Male – und gerade das ist so hinterhältig – sind komplexe Systeme außerordentlich robust.“

 

Über lange Zeit nimmt das System scheinbar unbeeindruckt große Mengen an Reizen und Störungen auf, bis es plötzlich wahrnehmbar aus dem Gleichgewicht (Homöostase) gerät und seine innere Architektur dauerhaft verändert. Auf der phänomenalen Ebene zeigt sich dieser Sprung beispielsweise als Erdbeben, Revolution oder Scheitern einer Beziehung.

 

Meist verliert der Output den erkennbaren zeitlichen Bezug zum Input. Paare lassen sich nicht scheiden, weil einer vergessen hat, den Müll vors Haus zu tragen - es ist der Tropfen, der das länger in Schieflage geratene Beziehungssystem zum Kippen bringt.

 

Alberto Gandolfi hat vor zwanzig Jahren die Bedeutung dieser Dynamik erkannt… und zwar im Hinblick auf die Zukunft unseres Ökosystems. Trotz (oder wegen) seiner Komplexität ist es extrem widerstandsfähig, denn

 

„seit Jahrhunderten widersteht es erhaben allen möglichen Einflüssen durch den Menschen. Die Frage ist, wie lange noch!“ (Gandolfi)

 

Eine trügerische „Ruhe“, denn sind die Folgen allgemein spürbar, ist es zu spät, die Dynamik des Systems kurzfristig zu beeinflussen.

  

 

Selbstorganisation

 

Das komplexe System beginnt sich zu organisieren, wenn es eine kritische Komplexitätsschwelle überschreitet. Dabei bilden sich Strukturen, die weitere Elemente des Systems harmonisch und koordiniert einbeziehen.

 

„Wir können die Selbstorganisation als ein spontanes Auftreten eines koordinierten und kollektiven Verhaltens in einer ‚Population‘ von Elementen definieren.“ (Gandolfi)

 

Dadurch entstehen neue Strukturen und Systemeigenschaften, denen sich die Elemente unterordnen müssen. Das führt zu einer neuen, übergeordneten hierarchischen Stufe, die das System zunächst vereinfacht, dessen Komplexität reduziert und die chaotische Übergangsphase (Bifurkation) beendet. Die neu organisierte Wechselwirkung zwischen zahlreichen nicht-intelligenten Elementen erzeugt ein System, das die Fähigkeit hat, auf einer höheren Ebene sinnvoll auf Umweltreize zu reagieren.

 

 

Der Schmetterlingseffekt

 

Nach dieser Theorie, kann ein Schmetterling in Brasilien Monate später in Nordamerika einen Hurrikan auslösen. Dahinter steht die bestätigte Annahme, dass minimale Störungen durch positive Rückkopplungen eine extreme Vergrößerung erfahren und das gesamte System in einen unkontrollierbaren chaotischen Zustand versetzen können.

 

„Im Chaos ist das System der totalen Instabilität ausgeliefert; jeder Punkt ist instabil und kann, ohne dass es sich vorhersagen ließe, das gesamte System stören.“ (Gandolfi)

 

Was beängstigend klingt, hat eine positive Seite: Ohne die Zufälligkeit des Chaos wäre die Vielfalt der Evolution gebremst oder unterdrückt. Uri Merry hält das Chaos deshalb für den fruchtbaren Boden, auf dem Kreativität entsteht. Für ihn ist das Chaos die Mutter der Erneuerung.

 

„Der natürliche Zustand jeder Lebensform ist eine Mischung aus Ordnung und Chaos.“ (Uri Merry)

 


Volle Kraft voraus

 

Systeme befinden sich die meiste Zeit in einem Gleichgewichtszustand (Homöostase). Erst wenn Störungen nicht mehr dauerhaft gedämpft oder ausgeglichen werden können, tritt das komplexe System in den dramatischen Zustand der Bifurkation mit den typischen extremen Ausschlägen nach unten und oben (siehe Grafik). In dieser vulnerablen Phase ist keine Richtungsvorhersage möglich. Es existiert kein Instrumentarium den Zustand des Systems exakt zu messen…weder a priori noch mit Hilfe von Computern.

 

„Eine dieser Schwankungen ist so heftig, dass sie schließlich das System in einen neuen Attraktor, in einen neuen stabilen Zustand katapultiert.“ Gandolfi)

 

Gandolfis Erkennnis: Das System neigt nach der Bifurkation dazu, komplexer zu sein. Seine Organisation wird geordneter, effizienter und dynamischer. Im Hinblick auf menschliche Gesellschaften bedeutet diese Entwicklung mehr Ordnung im Hinblick auf Informations-, Energie- und Materialflüsse. Die Gesellschaft macht einen Sprung auf eine komplexere Ebene. Aber:

 

„Eine Bifurkation muss nicht unbedingt kreativ sein, sie kann auch die totale Zerstörung des Systems oder seine Rückkehr zu tieferen Komplexitätsstufen bedeuten.“ (Gandolfi)

 

Bürgerkriege sind ein geschichtliches Kontinuum und Beispiel für gesellschaftliche Rückschritte durch chaotische Systemzustände.

 

 

 

Universale Gesetze

 

Bleibt die Frage, ob Regeln existieren, die Veränderungen innerhalb komplexer Systeme steuern? Der ungarische Philosoph Ervin László ist überzeugt, dass die Evolution trotz scheinbarem Chaos allgemein wissenschaftlich zugänglichen Gesetzen unterliegt und

 

„diese Gesetze gleichermaßen für physikalische, ökologische, menschliche und soziale Systeme gelten.“  

 

Alberto Gandolfi ist ist überzeugt, dass das (noch) geheimnisvolle Phänomen Komplexität die Welt wie ein unsichtbarer roter Faden zusammenhält. Solange diese Gesetze nicht bekannt und Kipp-Momente unvorhersagbar sind, ist es ratsam, sich keiner trügerischen Ruhe hinzugeben. Zu schmerzhaft sind die Versäumnisse, die sich durch die gesamte Menschheitsgeschichte ziehen.


 

Panta rhei


Alles fließt. Dieses, auf Heraklit zurückgehende – Diktum besagt, dass es kein bleibendes, unveränderliches Sein gibt. Vielleicht gelingt es aber den Komplexitätswissenschaften, ein Frühwarnsystem zu entwickeln, das Kipppunkte eines Systems anzeigt.

 


 

Literatur

Gandolfi, Alberto: Von Menschen und Ameisen. Denken in komplexen Zusammenhängen, Orell Füssli Verlag, Zürich 2001.

László, Ervin: Evolution, Nr.3, Gordon & Breach, Reading 1991.

 

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