Moral, Pflicht und Gewissen
- fowlersbay
- vor 1 Tag
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Was ist typisch Deutsch? Zuverlässigkeit, Präzision, Gartenzwerge oder Handtücher auf Hotelliegen? Weder noch.

Inzwischen dominiert ein anderes Phänomen: das wohlige Gefühl moralischer Überlegenheit. Schleichend, aber unbeirrbar, haben wir uns in ein Volk von Gesinnungsethikern verwandelt.
Weder Maß noch Mitte
Viele Menschen kennen die vernünftige aristotelische Mitte (Mesotes-Lehre) nur vom Hörensagen oder dem Weg von einem Extrem zum anderen. Dafür wird die Neigung zur moralischen Belehrung anderer Menschen und Nationen exzessiv ausgelebt. Die unversöhnlich geführten Debatten während der Pandemiezeiten sind ein denkwürdiges Beispiel.
Leider stimmen bei dieser selbstgerechten Geisteshaltung Anspruch und Ergebnis immer seltener überein. Was soll’s: Selbst Einwände anderer Länder werden nonchalant ignoriert. Zu berauschend ist das Gefühl der eigenen Großartigkeit.
In den 1960er Jahren kursierte ein treffender Spruch:
Der Deutsche liebt die Italiener, aber er respektiert sie nicht (Stichwort: südländische Faulpelze). Der Italiener respektiert die Deutschen, aber er liebt sie nicht (Stichwort: ungehobelte Besserwisser).
Mittlerweile werden wir weder geliebt noch respektiert. Woran wir größtenteils selbst schuld sind. Wir sind, wenn es um Taten geht, zu zahnlosen Kläffern geworden.
Ständig ist in politischen Debatten vom moralisch Gebotenen die Rede. Ein Grund, sich näher mit diesem Begriff zu beschäftigen.
Moral? Was ist das?
Das Wort Moral leitet sich vom lateinischen moralis (die Sitte/mores betreffend) ab. Deskriptiv verwendet, geht es um normative Handlungsorientierungen und wechselseitige Verhaltenserwartungen in einer Gemeinschaft.

Deren überlieferte Werte, Ideale, Regeln und Urteile sorgen für ein halbwegs verträgliches Miteinander. Nach Andreas Suchanek reagieren Menschen bei Verstößen gegen diese mehrheitlich akzeptierten Sittlichkeitsvorstellungen mit Scham- oder Schuldgefühlen. Warum?
Grob eingeteilt, existieren zwei Hauptrichtungen: der Moralpositivismus und der Moralrelativismus.
Moralpositivismus
Beim Moralpositivismus zählt der Gehorsam gegenüber einer Autorität (z. B. Staat oder Kirche). Die jeweilige Gesetzgebung definiert durch Vorschriften und Anordnungen den Rahmen des Sittlichen (i. e. Moral). Ob das Individuum aus intrinsischen Motiven zwanglos zustimmen würde, ist unerheblich.
Moralrelativismus
Laut Harald Schöndorf fehlt beim Moralpositivismus ein stabiler Maßstab zur Bestimmung moralischen Handelns. Das führt zu einer Relativierung, weil wechselnde Autoritäten unterschiedliche Vorstellungen von Sittlichkeit und Moral haben.
So existierten für Frauen während der 1970er Jahre in Kabul kaum offizielle Kleidervorschriften. Minirock und offenes Haar waren kein Verstoß gegen die guten Sitten. Heute dürfen Frauen das Haus nur vollverschleiert für dringende Besorgungen verlassen.
Die herrschende Moral und ihre konkrete Ausgestaltung hat mit den jeweiligen Umständen und Lebensbedingungen zu tun (Schöndorf). Sie unterliegt historischen Wandlungen, weshalb unterschiedliche Gesellschaften zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Vorstellungen davon haben, was sittlich vertretbar oder verwerflich ist.
Legalität vs. Moralität
Weder der Moralpositivismus noch der Moralrelativismus können erklären, warum Menschen in Extremsituationen gängige Moralvorstellungen ignorieren, um stattdessen ihrem Gewissen zu folgen. Vielleicht kann uns Immanuel Kant weiterhelfen?
Der glaubt, dass Handlungen aus zwei verschiedenen Beweggründen erfolgen.
Pflichtgemäß: Die Handlung ist gesetzeskonform (Legalität). Sie folgt einem äußeren Prinzip oder Zwang. Für Kant hat eine solche Handlung keinen sittlichen Wert, weil sie nicht aus freien Stücken, sondern Furcht vor Sanktionierung erfolgt.
Aus Pflicht: Die Handlung erfolgt aus Einsicht in die sittliche Notwendigkeit. Das Individuum befreit sich von äußeren Zwängen oder spontanen Neigungen. Letztere hält Kant ebenfalls für moralisch wertlos. Es geht bei der Handlung aus Pflicht darum, vernunftgeleitet seinem inneren moralischen Kompass zu folgen.
„Bei Kant erfolgt eine Verengung und Vertiefung des Begriffs Moral auf die Autonomie des Gewissens jedes einzelnen, das allerdings wegen des Anspruchs auf Allgemeingültigkeit seiner Maximen konzeptionell an die Gesellschaft gebunden bleibt.“ (Nick Lin-Hi)
Immanuel Kant verknüpft die Moral mit der Pflicht, die eine Nötigung des Wollens darstellt. Das Individuum erkennt die innere Werthaftigkeit des sittlich Notwendigen. Die Pflicht appelliert mittels des Gewissens an die Einsicht der Person.
Wichtig: Die einzelnen Pflichten haben zum obersten Prinzip des kategorischen Imperativ.
Freiheit, Zwang und Notwendigkeit scheinen sich auszuschließen. Sie lassen sich vereinbaren, wenn die Vernunft einsieht, dass
„eine Handlung, unter gegebenen Umständen, einen notwendigen Zusammenhang hat mit einem unbedingt zu bejahenden Wert.“ (Walter Brugger)
Der Ruf des Gewissens
In diesem Fall handelt das Individuum aus Gewissensgründen. Allerdings ist auch das Gewissen eine Zwangsinstanz und darüber hinaus eine Nervensäge des Bewusstseins.
„Diese Freiheit besteht einzig und allein in der Wahl zwischen zwei Möglichkeiten, nämlich auf das Gewissen zu hören oder dessen Warnungen in den Wind zu schlagen.“ (Viktor Frankl)
Als Letztinstanz ermöglicht das Gewissen die höchste individuelle Freiheitserfahrung, denn der Gewissensanspruch ist als moralisches Sollen befreiend und verpflichtend zugleich. Im Gewissen bin ich unvertretbar exklusiv heraus-gerufen. Das verleiht dem Einzelnen einen unvergleichlichen Wert. Das Gewissen ist der auf mir ruhende unbestechliche Blick.

Zudem ist das Gewissen Ausdruck eines stabilen Werte-Fundaments. Der Film „Schindlers Liste“ thematisiert dieses Vermögen, sogar das eigene Leben für seine Überzeugung zu riskieren.
Georgi Schischkoff verweist auf die enge Verbindung zwischen dem Gewissen und der Moral. Für ihn ist das Gewissen die Fähigkeit des menschlichen Geistes, die ethischen (moralischen) Werte in ihrer Realität und mit den von ihnen erhobenen Ansprüchen zu erkennen.
Es geht dabei um die Art und Weise, wie sich das Wertgefühl im Menschen Geltung verschafft und zugleich zum Ausdruck von Freiheit und Zwang wird. Im engeren Sinne ist das Gewissen das Gefühl um das, was gut oder schlecht, recht oder unrecht ist. Es ist das subjektive Bewusstsein vom sittlichen Wert des eigenen Verhaltens.
Das Gewissen führt auf diesem Weg zurück zur Moral:
„Moral ist derjenige Ausschnitt aus dem Reich der ethischen Werte, dessen Anerkennung und Verwirklichung bei jedem erwachsenen Menschen zunächst angenommen wird.“ (Schischkoff)

Literatur
Brugger, Walter: Philosophisches Wörterbuch, Herder Verlag, Freiburg im Breisgau 1976.
Frankl, Viktor E.: Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn, 24. Auflage, Piper Verlag, München 2011.
Kant, Immanuel: Grundlegung der Metaphysik der Sitten, Reclam, Stuttgart 1978.
Lin-Hi, Nick: Moral, in: Gabler Wirtschaftslexikon Online, https://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/moral-38236#:~:text=Moral%20bezeichnet%20die%20normativen%20Orientierungen,diese%20Regeln%20mit%20Schuldgefühlen%20reagieren. (abgerufen am 19.04.2025).
Schischkoff, Georgi: Philosophisches Wörterbuch, 21. Auflage, Alfred Kröner Verlag, Freiburg im Breisgau 1982.
Schöndorf, Harald: Philosophisches Wörterbuch, Verlag Karl Alber, Freiburg im Breisgau 2010.
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