Die erste Lüge ist die erste Falte auf der glatten Stirn der Unschuld. Warum? Weil sich der Lügner der Falschheit seiner Aussage bewusst ist. Das unterscheidet die Lüge vom Irrtum.
Der französische Philosoph Vladimir Jankélévitch (1903-1985) hält die Lüge gar für die Quintessenz der Sünde. Deshalb wiegt die erste Lüge eines Kindes so schwer:
„Der Tag der ersten Lüge ist ein wahrhaft feierlicher, an dem wir beim Unschuldigen die beunruhigende Tiefe des Bewusstseins entdecken.“
Sie ist eine Zäsur, die dem bis dahin „Unschuldigen“ Handschellen anlegt (Jankélévitch). Diese moralische Fehlleistung zu korrigieren wird mit jeder Minute schwieriger. Der gefesselte Lügner befreit sich, indem er die schiefe Lage, die seine Nachlässigkeit hervorgebracht hat, durch das Eingestehen der Wahrheit begradigt.
Die Wurzeln der Lüge
Was bringt einen Menschen dazu, erstmalig zu lügen? Aus welcher Quelle schöpft sie? Als Nährboden reicht der Lüge ein Ich und ein Du, die Anwesenheit eines Anderen.
„[Dieser] Andere weckt – allein durch den Druck unseres In-Beziehung-gesetzt-Seins – in mir die Versuchung, zu manövrieren.“ (Jankélévitch)
Die Motive für die Lüge sind vielfältig: Ausschaltung von Konkurrenz, Befriedigung der Eitelkeit oder Erlangung von Achtung und Anerkennung. Die Lüge scheint ein probates Mittel zur Durchsetzung der eigenen Interessen zu sein… und zwar gegenüber einem Anderen, vor dessen Reaktion auf die Wahrheit ich mich fürchte.
Nähe und Fremdheit
Um die Bereitschaft zur Lüge zu aktivieren, bedarf es einer gewissen Nähe. Diese Beziehung zum Gegenüber ist eine hierarchische oder (nach Aristoteles) despotische zwischen Ungleichen. Anders beim Fremden, der aufgrund fehlender Berührungspunkte kaum Anlass zur Lüge bietet. Genauso der Kamerad, der sich als Gleicher mit mir auf einer Ebene befindet.
„Die Lüge findet […] ihren Daseinsgrund in einer Welt partieller, undurchsichtiger, unvereinbarer Geschöpfe, die einer dem anderen ein Geheimnis bleiben.“
Das erinnert an einen Gedanken Emmanuel Levinas‘, für den zwischen zwei Menschen ein unüberwindbarer Rest an Fremdheit existiert. Diese dauerhafte Distanz ermöglicht die Einzigartigkeit des Einzelnen und schützt davor, vom jeweils anderen „einverleibt“ zu werden.
Jankélévitch sieht den Anlass für die Lüge in der Rivalität von Egoismen und deren Kampf um das Leben. Denn die Menschheit ist nicht in der Lage, langfristig konfliktfrei miteinander auszukommen.
Seiner Konkurrenz kann sich der Mensch auf zweierlei Weise entledigen: durch Gewaltanwendung oder durch Lüge, List, Täuschung und Betrug.
Dünger der Zivilisation
Bei der Lüge geht es darum, sich in der Welt bequemer einzurichten und risikoreichere, weil gewaltsame, Alternativen zu „umschiffen“. Die Lüge scheint gegenüber der unmittelbaren Auseinandersetzung das kleiner Übel zu sein:
„Sobald es Betrug gibt, wird es keinen Mord geben; und so wie Verachtung Beleidigungen überflüssig macht, so vermeidet List das Schlimmste.“ (Jankélévitch)
Deshalb hält Steffen Dietzsch die Lüge als Täuschungsvermögen für eine Triebfeder der Evolution. Denn sie verschiebt die gewaltvollen Anlagen des Menschen (Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf) hin zu einer Sozialverträglichkeit. Damit sind Lügen ein Ausdruck sozialer Intelligenz und ein Helfer bei der Kultivierung und Zivilisierung der Menschheit. Das ändert nichts an der moralischen Verwerflichkeit der Lüge, rechtfertigt aber in manchen Fällen deren Gebrauch (z. B. Notlügen in lebensbedrohlichen Situationen).
Aufgeschoben, nicht aufgehoben
Bedauerlicherweise ist die Lüge eine kurzlebige Alternative. Konflikte werden nur vertagt, nicht verhindert. Laut René Le Senne (1882-1954) bedeutet Lügen den
„Verzicht auf entferntere Vorteile der Wahrhaftigkeit zugunsten näherliegender Vergünstigungen.“
Für Jankélévitch ist die Lüge die Herrschaft des Augenblicks, das Opium der geringsten Anstrengung und – als Vereinfachung und Verkürzung – der Weg des geringsten Widerstandes. Hinzu kommt deren labiler, zerbrechlicher und flüchtiger Charakter, der dem Lügner einen kurzen Moment der Erleichterung verschafft.
Dafür bedarf es enormer Anstrengungen, um das Lügenkonstrukt aufrecht zu erhalten. Ein Moment der Unaufmerksamkeit reicht, um es zum Einsturz zu bringen.
„Die Möglichkeit der Lüge ist mit dem Bewusstsein selbst gegeben, es ermisst sowohl deren Größe als auch deren Erbärmlichkeit.“ (Jankélévitch, nach Augustinus)
Literatur
Dietzsch, Steffen: Nachwort in: Jankélévitch, Vladimir: Von der Lüge, Verlag Felix Meiner, Hamburg 2016.
Jankélévitch, Vladimir: Von der Lüge, Verlag Felix Meiner, Hamburg 2016.
Le Senne, René: Le Mensonge et le Caractére, Librairie Félix Alcan, Paris 1930.
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